
Eine Gesellschaft im Angesicht der Triage
Symptome und Ursachen einer Gesellschaft im Wandel
Seit fast einem Jahr leben wir nun schon unter besonderen Pandemie-Bedingungen. Jeder von uns musste im vergangenen Jahr Entbehrungen im persönlichen Leben in Kauf nehmen. Keine Familienfeiern, keine Treffen mit Freunden, kein Sommerurlaub. In dieser außergewöhnlichen Zeit stellten wir fest, was plötzlich möglich wurde. Dinge, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten und die auch weit über unser persönliches Leben hinaus Auswirkungen hatten. Schulschließungen, Maskenpflicht und ja, auch die Einschränkung von Grundrechten.
Obwohl die Pandemie noch nicht vorüber ist, bemerken wir schon jetzt, dass das Coronavirus etwas mit unserer Gesellschaft gemacht hat. Dass sich dieses komplexe Gefüge der sozialen Interaktionen wandelt, ist nichts neues. Allerdings scheinen die Geschwindigkeit und mitunter auch die Radikalität dieser Umbrüche schneller und massiver zu sein als noch bei vorherigen Entwicklungen dieser Art. Einseitig negativ betrachtet scheint die Pandemie als eine Art Brandbeschleuniger zu fungieren. Gesellschaftlich verankerte Strömungen und Tendenzen erhalten durch ein bösartiges Virus und dessen staatliche Eindämmungsversuche einen fruchtbaren Nährboden. Als unmittelbare Folge dieses Beschleunigungseffekts mischen sich Rechtsradikale, Neonazis und Verschwörungstheoretiker unter besorgte Bürgerinnen und Bürger und instrumentalisieren deren Anfragen an die Corona-Politik zur Hetzkampagne gegen einen demokratisch legitimierten Staat. Zu sehen sind Reichskriegsflaggen vor dem Reichstag, deren symbolischer Angriff auf die Demokratie schnell zu einem tatsächlichen hätte werden können.
Die Erstürmung eines Gebäudes, das demokratische Institutionen beherbergt, fand unterdessen in den Vereinigten Staaten von Amerika statt. Der Sturm auf das Kapitol erinnert sehr an die fahnenschwenkenden Radikalen in Berlin, wenngleich ihnen der Zutritt zum Gebäude nicht gelang. In Washington kam es zur beabsichtigten Störung eines demokratischen Prozesses, nämlich der Bestätigung des neugewählten Präsidenten Joe Biden durch den Kongress. Brandbeschleunigend wirkte hier mit großer Sicherheit nicht nur die Zerrissenheit der ohnehin angespannten amerikanischen Gesellschaft und das dort heftig grassierende Coronavirus, sondern auch der mittlerweile ehemalige Präsident Donald Trump, der an beidem, der Spaltung und der versäumten Corona-Bekämpfung, Schuld trägt. Die Probleme dieses Landes sind mit der Wahl eines neuen Präsidenten natürlich nicht gelöst, aber es besteht mehr Hoffnung auf Veränderung für die amerikanische Bevölkerung und die internationalen Beziehungen. Jetzt, wo kein Trump und hoffentlich auch bald kein Corona mehr wütet.
In der Bevölkerung schleicht sich nach einem Jahr der Pandemie und der Lockdown – und Lockerungs- und Lockdown light – Strategien eine gewisse Corona-Verdrossenheit ein. Wir alle wünschen uns das Ende dieser Pandemie, aber ohne wirklich zu bedenken, wie es danach weitergehen wird. Den Wandel, den dieses Virus hervorgerufen beziehungsweise beschleunigt hat, werden wir so schnell nicht wieder zurückdrehen können. Ein Neustart in alten Gewohnheiten einer Pre-Corona-Zeit unter Erhaltung des Status quo ante ist nicht möglich. Zumal wir uns bewusst machen müssen, dass wir die vollen direkten und indirekten Auswirkungen der Pandemie noch gar nicht überblicken können. In diese unsichere Zeit fällt die nächste Bundestagswahl, bei der wir über die politische Richtung und Gestaltung des Landes für die nächsten vier Jahre entscheiden. Ein Ergebnis steht dabei schon fest: Die nächste Kanzlerin oder der nächste Kanzler wird nicht mehr Angela Merkel heißen. Insofern wird diese Wahl sicherlich spannender sein als vorherige. Allerdings fördert dieser Umstand auch die Corona bedingte Unsicherheit. Man kann mit der Politik Merkels sympathisieren oder nicht, in jedem Fall muss man jedoch anerkennen, dass eine sechzehnjährige Kanzlerschaft Spuren in Land und Gesellschaft hinterlässt. Und dennoch gehört es zu den Spielregeln unseres Systems, dass die Demokratie vom Wandel lebt. Eine Maxime, für die wir mit Blick auf die USA wahrscheinlich größtenteils dankbar sind.
Corona als Brandbeschleuniger für gesellschaftliche Umtriebe und Unsicherheiten. Dieser Zusammenhang beleuchtet ausschließlich die negativen Seiten unserer gegenwärtigen Situation und natürlich sind nicht alle Veränderungen auf diese Ursache zurückzuführen. Nichtsdestotrotz spüren wir diesen Wandel mehr als sonst und sind von seinen Auswirkungen direkt persönlich betroffen. Wir leben momentan in schwierigen Zeiten, die uns einiges abverlangen. Daher gilt es, nicht die Gründe hinter all den Maßnahmen zu vergessen: Die Zahlen der Infizierten und Toten, hinter denen jeweils ein persönliches, menschliches Schicksal steckt. Zugespitzt formuliert leben wir momentan im Angesicht der Triage, jenem Zustand, der, bedingt durch die Knappheit von medizinischen Ressourcen, die Auswahl derjenigen erfordert, die eine medizinische Behandlung erhalten. Steigen die Infektionszahlen, werden die verfügbaren Plätze auf den Intensivstationen und die Beatmungsgeräte knapper. Die Versorgung der Infizierten mit besonders schwerem Verlauf ist dann nicht mehr allumfassend gewährleistet.
Unsere Gesellschaft steht im Angesicht der Triage, aber dafür, und das ist die große Hoffnung, leben wir nach Corona in einer Gesellschaft im Angesicht der Mitmenschlichkeit.
Lorenz Paul Schmitt
