Hast du Zeit?
Die Wahrnehmung von Zeit – Ein individueller Aspekt im Wandel der Gesellschaft
Ich stehe am „ZEITpunkt“ unserer Schule im Caféhaus. Wie jeden Freitag nehme ich mir die Zeit, mir DIE ZEIT zu nehmen und mich damit auf eines der Sofas in der Ecke zu setzen. Ich blicke auf die Uhr. Die Zeit dürfte reichen; die Pause hat gerade erst begonnen. Anders als sonst begutachte ich nicht zuerst das Bild auf der Titelseite, sondern den Zeitungstitel selbst: DIE ZEIT. Eigentlich ist das Logo jederzeit dasselbe, heute jedoch fällt es mir besonders auf. Zeit. DIE ZEIT. Jeden Tag verwenden wir diesen Begriff. Aber was genau verbirgt sich eigentlich dahinter? Bleibt „die Zeit“ immer gleich, oder wandelt sie sich? Leben wir heute in „einer Zeit“ und morgen in einer anderen? So richtig tiefgründig habe ich mir noch nie darüber Gedanken gemacht. Warum sollte also nicht jetzt der richtige Zeitpunkt dafür sein?
Sofort schießen mir die verschiedensten Sätze durch den Kopf, welche man im Alltag mehr oder weniger häufig verwendet oder zumindest zu hören bekommt. „Hast du Zeit?“ – „In der Zeit zwischen 12 und 14 Uhr ist die Praxis geschlossen.“ – „Lass dir nicht so viel Zeit damit!“ – „Zeit ist Geld.“ Was mir auffällt: scheinbar spielt der bestimmte Artikel „die“ eine entscheidende Rolle, wenn es um den Kontext und die Bedeutung „der“ Zeit geht. „Die Zeit“ beschreibt das Wort eher als eine Zeitspanne, während „Zeit“ ohne Artikel einen weniger definierten, jedoch einen weitaus bedeutsameren Hintergrund hat. „Eure Zeit ist um!“ Auf einmal wird Zeit zu etwas Persönlichem. Ich merke schon: wenn man versucht, die Zeit mit einem anderen treffenden Wort zu umschreiben, stellt man fest, dass es keins gibt. Die Zeit muss wohl ein Begriff für sich sein – gar unantastbar?
Gegen die Zeit sind wir machtlos, aber wir verfügen trotzdem über sie
Woran meine Gedanken hängen bleiben, ist der gewöhnliche Ausdruck „Hast du Zeit?“. Umgangssprachlich meint die Frage selbstverständlich so viel wie „Wollen wir uns demnächst treffen, oder hast du schon etwas anderes vor?“ – die Menschen scheinen sich daran gewöhnt zu haben, eigentlich etwas anderes zu meinen, wenn sie diese Frage stellen. Betrachtet man den Satz ganz neutral und nimmt ihn in seiner Bedeutung wörtlich, fällt auf, dass die Zeit hier als etwas dargestellt wird, das man entweder besitzt oder nicht besitzt. „Ja, ich habe Zeit“ oder „Nein, ich habe keine Zeit“. Und auch hier wird sie zu etwas Persönlichem. Doch ist die Zeit wirklich etwas, das man selbst hat oder nicht hat – fast schon wie ein Ding? Wohl eher ist sie etwas nicht Greifbares, das dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – die Macht hat, über alles zu bestimmen. Und nicht nur die Menschen sind „alles“ – es ist das Universum; alles, das wir uns vorstellen, aber auch alles, das wir uns nicht vorstellen können. Gegen die Zeit sind wir machtlos, aber wir verfügen trotzdem über sie. Vermutlich ist sie auch das einzige, das die Garantie zur Unvergänglichkeit besitzt. Selbst, wenn eines Tages die Erde nicht mehr existiert oder wenn es theoretisch das ganze Universum nicht mehr geben würde, dann ist die Zeit das Einzige, was bleibt.
Ich möchte dem Begriff weiter auf den Grund gehen. „Es dauert oft eine halbe Stunde, bis wir mit dem Einkauf fertig sind.“ – „Der Reifungsprozess des Käses dauert 8 Monate.“ Die Zeit beschreibt die Dauer eines jeden Prozesses. Seitdem es für diese Dauer bestimmte, vom Menschen einst festgelegte Einheiten (Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, …) gibt, haben die Menschen etwas, woran sie sich orientieren können. Mittlerweile ist die Zeit eine Orientierung für die ganze Welt. Jeder will wissen, wie lang ein Arztbesuch dauern wird, um Pläne machen zu können. Die Menschen wollen sich ihre Zeit einteilen, weil sie eine Struktur in ihre verfügbare Zeit bringen wollen. Scheinbar schätzen sie es automatisch als ein wertvolles Gut, das zwar für sich selbst unendlich scheint, für den Menschen persönlich jedoch begrenzt ist. Die Zeit schreitet voran. Je knapper das Gut, desto höher ist seine Wertschätzung und desto größer ist das Bedürfnis, alles davon bestmöglich zu nutzen. Das Bewusstsein für Zeit ist also auch ein Auslöser für individuelle Produktivität.
Innere Uhr?
Jedoch gibt es weitaus bedeutsamere Prozesse als den Reifungsprozess eines Käses. Beispielsweise den eines Menschen. Mit vergehender Zeit wächst er körperlich und geistig. Er wird älter, er wandelt sich. Oft wird diese vergehende Zeit im Kindesalter noch ehrlich gefeiert, während sie ab einem beliebigen Zeitpunkt unversehens verflucht wird. Unsere innere Einstellung zu der Zeit scheint sich mit ihrem Fortschreiten zu wandeln. Aber warum? Schließlich kommt es nur darauf an, wie wir persönlich zu der Zeit stehen und wie wir mit ihr umgehen. Die Zeit gibt uns die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln. Daran zu wachsen. Die Zeit gibt uns die Möglichkeit, mit ihr selbst umgehen zu lernen. Gegen sie sind wir machtlos, aber mit ihr können wir viel bewirken – oft mehr, als wir uns vorstellen können. Wenn wir es schaffen, unsere „innere Uhr“ nicht nach dem Zeitverlust, sondern nach der Zeitlosigkeit zu stellen, sind wir vielleicht weniger gestresst.
Scheinbar spielt (im Auge des Menschen) das Bewusstsein für Zeit eine größere Rolle als die Zeit selbst. Mal ist die Zeit in unserem Alltag mehr präsent, mal weniger. Richtig bewusst werden wir uns darüber beispielsweise erst dann, wenn man jemanden trifft, den man für eine subjektiv lange Zeit nicht gesehen hat. Meist spüren wir die Zeit also nicht unbedingt während eines Prozesses, sondern erst, wenn ein Prozess bereits abgeschlossen ist. Wir lassen uns in Momenten wie Geburtstagen „plötzlich“ daran erinnern, wie und dass die Zeit überhaupt vergeht. Und dann kommt uns die Geschwindigkeit der Zeit viel schneller vor, als sie eigentlich ist.
Die Zeit eilt, teilt und heilt
Die Zeit ist für uns nicht sichtbar. Lediglich ihre Auswirkungen, ihre Spuren, die sie überall hinterlässt. Überall. Was kann die Zeit denn noch, außer Mensch und Käse reifen zu lassen? Da fällt mir das Zitat an einem Fachwerkhaus in der Gelnhäuser Altstadt ein, welches ich als Kind mal gelesen hatte und scheinbar im Gedächtnis behalten habe: „Die Zeit eilt, teilt und heilt.“
Die Zeit eilt. In den Augen der Menschen eilt sie tatsächlich, das kann auch ich nicht leugnen – und das, obwohl sie kontinuierlich ihren Rhythmus beibehält. Woran liegt das? Vermutlich daran, dass wir die Zeit als Ganzes oft vergessen. Die Uhr haben wir immer im Blick, aber die Zeit als eine große Spanne, als Rahmen eines bunten, einzigartigen und abstrakten Gemäldes – unserem Leben – lassen wir oft außen vor. Bis uns (zum Beispiel an unserem Geburtstag) einfällt, wie viel Zeit schon für uns vergangen ist. Ein weiterer Grund könnte sein, dass wir versuchen, gegen die Zeit zu arbeiten und zu leben, Lebensabschnitte zu ent- oder beschleunigen, ja, uns schlicht und ergreifend quer zu stellen. Die Menschen haben eigentlich genug Zeit zur Verfügung, dennoch reicht sie ihnen nicht, weil sie das Gefühl von Unzufriedenheit verspüren, dass sie ihre vergangene Zeit nicht so genutzt haben, wie sie es sich (im Nachhinein) gewünscht hätten. Gegen die Zeit sind wir machtlos, aber mit ihr können wir viel bewirken – manchmal sollten wir es einfach mal so hinnehmen, nicht über alles die Macht zu haben, sondern uns den Gegebenheiten anpassen und damit zufrieden sein. Ich denke, diese Einstellung macht automatisch glücklich.
Die Zeit teilt. Dieser Aspekt hat zwei Gesichter. Einerseits lässt sie Menschen Momente miteinander teilen; sie teilt ihr Leben in eindeutige Phasen. Andererseits teilt sie Menschen. Sie lässt Menschen sich auseinanderleben; aus den Augen, aus dem Sinn. Dennoch hat die Zeit nie Schuld. Es kommt lediglich darauf an, was wir daraus machen.
Die Zeit heilt. Ich schätze, jeder hat schon einmal erlebt, dass die Zeit Wunden heilt. Sie lässt uns Menschen vergessen, die uns zunächst nicht aus dem Kopf gehen wollten, weil sie uns enttäuscht und/oder verletzt haben. Sie lässt uns mit Dingen, Vorfällen oder zwischenmenschlichen Beziehungen abschließen, die uns nicht ewig beschäftigen können, einfach, weil wir das nicht ertragen könnten. Und kaum fällt uns dann nach einer gewissen Zeit auf, dass wir mit einem Kapitel abgeschlossen haben, merken wir, dass es die Zeit war, die uns diese Entwicklung, diesen Reifeprozess ermöglicht hat.
Die Zeit kann ganz schön viel.
Das Klingeln zum Pausenende reißt mich aus meinen Gedanken. Mir fällt auf, dass ich von DER ZEIT bisher nur die Überschrift gelesen habe. Ich habe wohl ganz die Zeit vergessen.
Amira Büttner