Worte (Kurzgeschichte)
Splitter flogen durch die Küche eines Einfamilienhauses und landeten klirrend auf dem Boden, nur um in tausend kleinere Teile zu zerbersten.
Diese Splitter waren die Stücke einer Glasflasche, die ein Mann durch den Raum geschleudert hatte und nun an einer Wand aufgeschlagen und zerbrochen waren.
»Weißt du eigentlich, was ich alles für dich tue?!«, brüllte er einen Jungen an, der sich zitternd in eine Ecke des Raumes drückte.
»Ich hab’ die Nase voll von dem Scheiß!«, schrie er wütend. Felix machte sich kleiner, immer kleiner und versuchte, Ruhe zu bewahren. In ein paar Stunden wäre sein Vater wieder normal. Lügner, sagte eine nervige Stimme in seinem Kopf. Sein Erzeuger wäre dann noch immer besoffen, genau wie er es seit Jahren immer war.
»Ich- ich geh jetzt«, stammelte der Junge. Die Worte waren nichts mehr als ein Flüstern, doch sein Vater wurde lauter. Er hatte die Worte seines Sohnes nicht gehört, was vielleicht auch gut war. Ansonsten wäre er wahrscheinlich noch wütender und lauter geworden.
»DU BIST NUTZLOS«, schrie er. Felix schloss die Augen und versuchte, seinen Vater zu ignorieren, doch es gelang ihm kaum. Sein Puls wurde schneller, viel schneller als gewöhnlich und Angst machte sich in ihm breit.
Sein Vater griff sich eine weitere Weinflasche, trank daraus und schmiss sie gegen eine Wand. Rote Flüssigkeit spritzte in alle Richtungen, ein Scherbenregen prasselte auf den Boden nieder. Wieder tausend weitere kleine Splitter.
Felix drückte sich noch weiter in seine kleine Ecke, nahm die Arme über den Kopf und hoffte, diesen Abend zu überleben. So wütend wie jetzt war sein “Papa” noch nie geworden.
»Papa … bitte …« Seine Stimme brach.
»GEH AUF DEIN ZIMMER!«, befahl ihm sein Vater, die Lautstärke immer weiter steigernd.
Sofort stand der Junge auf, öffnete die Küchentür und floh in sein Zimmer. Es war klein und die Tapete erinnerte ihn immer an seine Vergangenheit. Bärchentapete. Die Bären darauf lächelten, grinsten und wirkten fröhlich. So war er früher gewesen. So war sein Vater früher gewesen.
Felix rannte zu seinem Schreibtisch und setzte sich, so schnell, als wäre es das Wichtigste der Welt und griff zu einem alten Bleistift und einem kleinen Zettel, kritzelte etwas darauf, strich es durch, legte den Zettel zur Seite, öffnete seinen Schulranzen und nahm seinen Block heraus. Als er das saubere Papier sah, verlangsamte sich seine Atmung wieder und seine Hände hörten auf zu zittern.
Kurz schloss er die Augen und versuchte sich an die wenigen schönen Tage zu erinnern, die er als kleiner Junge gehabt hatte. Damals war sein Vater noch sein Papa gewesen, nicht nur ein Mann, den er mittlerweile nicht mehr als Familie ansehen konnte. Der ihm nie etwas Gutes tat, ihn immer nur anbrüllte. Der noch nicht getrunken hatte …
Der Alkohol hatte ihn verändert. Ihn und Felix‘ Leben.
Felix legte das Papier auf den Schreibtisch, drehte kurz den Bleistift in der Hand und fing an, Buchstaben auf das Papier zu bringen. Aus den Buchstaben wurden Wörter und kurz vergaß er, dass sein Vater ein fremder Mann geworden war.
Der Junge schrieb von einer anderen Welt. Einer, in der alles gut war, in der seine Mutter seinen Vater nicht verlassen hatte und dieser nicht das alleinige Sorgerecht bekommen hatte. Warum, das wusste der Junge nicht, doch er vermutete, dass er das Recht aufgrund seiner „Beziehungen“ bekommen hatte. Warum hatte sein Vater das überhaupt gewollt? Um ihn zu quälen? Wahrscheinlich. Anders konnte es sich der Junge nicht erklären.
Die Wörter bildeten ganze Sätze und aus diesen Sätzen entstand eine Geschichte, die nur auf dem Papier und in Felix‘ Gedanken existierte.
Er versank in seiner eigenen Welt und vergaß alles um sich herum. Seine Charaktere begannen zu leben und wurden mehr als Charaktere, sie entwickelten ein Eigenleben. Sie taten nicht das, was der Junge wollte; sie handelten selbstständig; trafen eigene Entscheidungen. Doch Felix war das egal. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln- ein seltener Anblick.
Plötzlich wurde er unsanft aus seinen Gedanken gerissen.
»WAS HAST DU GESCHRIEBEN? DOCH NICHT ETWA ANS JUGENDAMT? WENN DANN- …«
Felix wurde schwarz vor Augen, er fiel in eine tiefschwarze Dunkelheit. Plötzlich wurde alles wieder heller und die Farben um ihn herum nahmen Konturen an.
Felix entdeckte eine andere Welt. Es war seine eigene. Seine eigene Welt, in der sein Vater sein Papa war. Kein Fremder.
Leonie Lena Strobel