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Verstellt

»Denke nicht daran, was andere von dir denken. Denke daran, wer du bist und sei du selbst«, sagte mir meine Mutter immer, als ich noch jünger war.  

Damals verstand ich die Wichtigkeit ihrer Worte nicht und verstellte mich.  

»Klar, ich mag keine Videospiele«, erklärte ich den anderen Mädchen in der Schule, nur weil die keine mochten. Ich versteckte die Autos, mit denen ich immer gespielt hatte, schaffte sie auf den Dachboden, schließlich in den Müll. Damals standen mir die Tränen in den Augen, ich weinte und weinte und weinte, doch ich verstand nicht, dass das eine falsche Entscheidung war. Auch verstand ich nicht, dass ich, obwohl ich ein Mädchen war, genauso wie die Jungen meiner Klasse mit Videospielen und Autos spielen durfte.  

Meine Mutter, genau wie mein Vater, merkten damals von all dem nichts. Beide dachten, es wäre eine freiwillige, von mir gewollte Entscheidung gewesen. War es nicht. Ich hatte das nicht gewollt, doch ich dachte, für Mädchen ziemten sich Videospiele nicht, genauso wenig wie Modellautos.  

Es war eine Entscheidung, die ich immer wieder verfluchte und gleichzeitig lobte. Genau richtig gemacht, sagte ich mir, obwohl ich mich jeden Abend in den Schlaf heulte.  

Ich wurde älter, zweifelte nicht einmal daran, dass ich „das Richtige“ getan hatte. Ich gestand mir nicht zu, dass ich mich Tag für Tag verstellte, Dinge tat, die ich eigentlich nicht wollte. Wenn die Tränen über mein Gesicht rannen, dachte ich, das sei normal und das müsste so sein. Immer wieder log ich mich an, ich wollte einfach dazugehören. Nicht immer in der Pause alleine stehen. 
Als ich merkte, dass ich fast mein ganzes bisheriges Leben „falsch“ gelebt hatte, war ich fünfzehn. Schon lange schminkte ich mich, genau wie die anderen Mädchen, tratschte mit ihnen über dies und das. Oftmals lästerten sie jedoch auch über eine neue Klassenkameradin, die erst seit wenigen Wochen in unsere Klasse ging.  

Sie hieß Lulita, war frisch in unsere Stadt gezogen und war vollkommen anders als wir. Obwohl sie ebenfalls fünfzehn war, spielte sie mit Autos. Auch besaß sie einige Videospiele, ging offen damit um. Als sie in unsere Klasse gekommen war, war sie zunächst die Außenseiterin gewesen. Mittlerweile wurde sie als „vollkommen out“ betitelt, wurde geärgert und schloss sich jede Pause im Mädchenklo ein.  

An einem Tag war das Mobbing besonders schlimm. Lulita brach direkt in Tränen aus, rannte einfach aus dem Unterricht und blieb ihm für mehr als zwei Schulstunden fern.  

Als wir fast am Ende des Schultages angelangt waren, befahl ein Lehrer, dass wir nach ihr sehen sollten. Das Los fiel auf mich und ich hörte, wie mich die anderen bemitleideten.  

»Die Arme, muss nach dem Lolli schauen«, meinte die Klassenzicke.  

»Hoffentlich hat die sich das Klo runtergespült und lebt jetzt in der- wie hieß das nochmal?«, kam aus dem Mund eines des Mädchens, das fast immer im Mittelpunkt stand. »Kanalisation«, half ihr eine Andere auf die Sprünge. 

»Hoffentlich lebt die jetzt in der Kanalisation!«, beendete die, die oft im Mittelpunkt stand, ihren Satz. 

Langsam schlurfte ich aus dem Klassenzimmer und ließ mir besonders viel Zeit, obwohl ich wissen wollte, wie es Lulita ging. Ich verstand die anderen nicht, obwohl ich sie tatsächlich etwas schräg fand. Dass ich früher genauso wie sie war, hatte ich verdrängt. Und obwohl ich den Grund vergessen hatte, weinte ich mich noch immer in den Schlaf. Es ging mir einfach schlecht, ich fühlte mich nicht komplett. Etwas war falsch.  

Als ich auf dem Schulflur angekommen und um eine Ecke gelaufen war, hörte ich schon „Lollis“ Schluchzen. Ich öffnete die Tür der Mädchentoiletten und schaute in den Raum. Toilettenpapierfetzen lagen auf dem Boden, manche Wände waren mit Edding beschmiert. Lulita war nicht da, doch die Laute waren noch immer deutlich hörbar, tatsächlich waren sie etwas lauter geworden.  

»Bist du da?«, flüsterte ich. Kurz herrschte Stille, dann ging das Schluchzen weiter. Hatte sie mich nicht gehört, fragte ich mich und versuchte es etwas lauter.  

»Lulita, bist du da?« Diesmal hielt die Stille etwas länger, dann fragte eine brüchige Mädchenstimme: 

»Was willst du?« 

»Mit dir reden«, antwortete ich in der Hoffnung, dass sie gesprächig wäre. War sie nicht. Verübeln konnte ich es ihr nicht, denn ich stand immer bei denen, die sie mobbten.  

»Ich … wollte dir sagen, dass es mir leidtut« 

Auf einmal war es noch leiser als vorher, doch kurze Zeit später unterbrach Lulita die Stille.  

»Ernsthaft?«, fragte sie mich.  

»Ernsthaft« kam aus meinem Mund.  

»Denkst du, dass ich komisch bin, nur weil ich etwas toll finde, das ihr als blöd betitelt? 

Ich zögerte. Eigentlich fand ich die Dinge, die sie mochte, komisch und verstand sie nicht, aber das Mädchen wäre dann wahrscheinlich nur noch trauriger. Sollte ich sie anlügen oder komplett ehrlich sein? Ich entschied mich für einen Mittelweg.  

»Na ja, jeder mag was anderes. Ich-« Lulita unterbrach mich.  

»Hast du nie Videospiele gespielt oder Hosen getragen?« 

Ja, dachte ich mir, doch plötzlich suchte mich eine Erinnerung heim. Ich sah mich, wie ich genau das tat, was Lulita noch immer machte. Ich sah, wie ich weinte, meine Mutter mich fragte, was los war und ihr antwortete, alles wäre gut. Sah, wie ich mich vor den anderen Mädchen verstellte, verstand jedoch nicht, warum ich mein jüngeres Ich aus einer anderen Perspektive sehen konnte.  

»Doch«, erklärte ich ihr. »Ich … ich habe das gemacht« 

Die Toilettentür flog auf. Lulitas pinke Strähnen waren nass, die Farbe an einigen Stellen verblichen. Wollte sie normal aussehen? Das machen, das ich früher tat? Sich „anpassen“, damit aber unglücklich sein? Egal. Jetzt musste ich sie trösten.  

Das Mädchen war schließlich genauso, wie jedes andere auch. Anders. Jeder ist anders, verstand ich.  

»Komm«, sagte ich und blickte Lulita direkt in die geröteten Augen. Vorsichtig nahm ich sie in den Arm. Sie ließ es geschehen und schaute mich nur etwas verwundert an.  

»Wir gehen jetzt zurück in die Klasse und zeigen den Anderen, dass wir sein können, wie wir wirklich sind.« 

Kurzgeschichte von Leonie Lena Strobel 

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