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Der frühe Vogel kann mich mal

6:30 Uhr. Wenn mein Wecker morgens klingelt, ist es draußen noch stockdunkel. Der Mond steht kalt und fahl am Himmel, der Rest der Welt ist gefühlt auch noch nicht wach. Die Snooze-Taste findet meine Hand inzwischen automatisch. Wenn ich nach vier oder fünfmal Klingeln dann richtig aufwache, ist mein erster bewusster Gedanke meistens „Verdammt, ich will einfach nur liegenbleiben.“
Bei meinen Freunden ist das nicht anders. Sätze wie „Ich hab echt überlegt heute nicht zu kommen.“, oder „beinahe wäre ich wirklich nochmal eingeschlafen.“ sind inzwischen immer Teil des morgendlichen Gesprächs. Energy Drinks und Kaffeebecher stehen an jedem zweiten Tisch – obwohl die meistens auch nicht mehr helfen. Wir sind müde. 
Aber warum? Laut den meistens Lehrkräften – und auch unseren Eltern – weil wir viel zu spät ins Bett gehen. Würden wir einfach mal um zehn Uhr einschlafen, so wie die Erwachsenen auch, dann wären alle unsere Probleme gelöst! 

Abgesehen davon, dass viele von uns es sich nicht leisten können „einfach so“ früher ins Bett zu gehen (Leistungsdruck lässt grüßen), funktioniert dieser gut gemeinte Ratschlag in den allermeisten Fällen schlichtweg nicht. Versuche ich, mit meinen gerade mal 18 Jahren, statt um elf um halb zehn ins Bett zu gehen, dann ist das Resultat oft dasselbe: Eineinhalb Stunden lang herumwälzen, an die Decke starren, Sterne zählen, über Gott und die Welt nachdenken. Kurz gesagt: Alles außer Schlafen. Neben grundsätzlichen Schlafproblemen – unter denen übrigens bis zu 50% der erwachsenen Weltbevölkerung leiden – hat die Unfähigkeit früh einzuschlafen, bei vielen Leuten noch einen anderen Grund.

Die Begriffe „früher Vogel“ und „Nachteule“ kennt wohl jeder. Sie teilen Menschen in zwei Gruppen ein: Solche, die früh aufstehen und morgens aktiv sind, und solche, die bis in die Nacht wachbleiben und in den späten Stunden Energie finden. In unserer modernen Gesellschaft werden letztere oft belächelt, als faul und Langschläfer bezeichnet. Das Konzept Nachteule funktioniert heutzutage nicht besonders effizient. 
Trotzdem muss es auch für dieses biologische Phänomen eine Erklärung geben. Denn wenn wir eins in Bio gelernt haben, dann dass die Evolution für alles einen Grund hat. 

Und Theorie für diesen findet man. Dafür muss nur weit genug nach hinten geschaut werden. In der modernen Zeit leben wir in Häusern, schlafen in Betten und Kaufen unser Essen im Supermarkt. Doch vor mehreren hunderttausend Jahren, während der Zeit der ersten Menschen, sah die Realität noch ganz anders aus. Der durchschnittliche Homo Sapiens lebte als Jäger oder Sammler, schlief in Höhlen und war rund um die Uhr unzähligen, lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt. Und da Säbelzahntiger, Wollhaarmammuts und prähistorische Beutelratten nicht pünktlich um neun Uhr nach Hause fuhren, um den Feierabend vorm steinzeitlichen Fernseher zu genießen, musste immer jemand wach sein, um am Feuer zu sitzen, den Speer zu schleifen und auf mögliche Angriffe zu warten.

Ein gutes Beispiel hierfür sind die Hadza – eine Volksgruppe in Tansania, welche bis heute noch beinahe genauso leben, wie es ihre Vorfahren in jüngster Vergangenheit getan haben. In einer mit ihnen durchgeführten Studie des NIH (National Center for Biotechnology Information) ergab sich, dass von den ca. 30 Teilnehmern während der beobachteten 20 Tage fast nie alle gleichzeitig schliefen. Stattdessen arbeiteten die Hadza in Schichten, mit Gruppen die nachts wach waren und Gruppen, die tagsüber aktiv wurden. 
Interessant hierbei ist unter anderem, dass ältere Mitglieder des Stammes oft früher ins Bett gingen als die Jüngeren, welche oft lang wachblieben. 

Die durchgeführte Studie offeriert also eine mögliche Erklärung für das Phänomen „Nachteule“. Die unterschiedlichen Schlafrhythmen der Menschen dienten damals der Sicherheit und dem Überleben des Stammes, man war auf sie angewiesen. 
In unserer heutigen 9-5 Gesellschaft, in welcher frühes Aufstehen eine Grundvorrausetzung für Erfolg im Berufsleben ist, findet dieses evolutionäre Überbleibsel nicht mehr viele Freunde. 

Trotzdem ist es noch immer relevant. Besonders bei Jugendlichen spielt die eben angesprochene „innere Uhr“ eine sehr große Rolle. Grundsätzlich ist diese bei jedem Menschen anders ausgeprägt. Während der Pubertät verändert sie sich jedoch. Unter anderem wird das Hormon Melatonin – das uns müde macht – erst spät abends ausgeschüttet. Die innere Uhr wird also vorgestellt. Daraus folgt, dass viele Jugendliche sehr viel länger wach bleiben und erst spät einschlafen. 

Und da der Ansatz, Schule später beginnen zu lassen, in Deutschland bisher fast keinerlei Anklang findet, sehen sich Millionen von Schülerinnen und Schülern tagtäglich dem gleichen Ablauf ausgesetzt: Viel zu früh aufstehen, im Halbschlaf durch den Morgen wanken, in den ersten zwei Stunden – besonders im Winter – gerade mal die Hälfte mitbekommen, und dann später am Tag Stoff nachholen. Ebenfalls führt Schlafmangel unter anderem zu Konzentrationsschwierigkeiten, Stoffwechselproblemen, Kopfschmerzen, Übergewicht und Schwächung des Immunsystems.
 Und all dies nur aufgrund eines gesellschaftlichen Systems, dass sich weigert, die Biologie des Menschen zu akzeptieren und sich ihr anzupassen. 
Aber klar. „Geht einfach bisschen früher ins Bett.“

Paula Rudolf

Ein Kommentar

  • J. W.

    Toller Artikel. Er trifft das Thema auf den Punkt und beschreibt genau die Probleme, die viele einfach nicht verstehen (wollen).

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